Tracy Chapman : „Soziale Bewegungen brauchen Identifikationsfiguren.“ (Galore, November 07, 2015)

By André Boße, Galore, November 07, 2015

07.11.2015, Los Angeles. Müsste man den schüchternsten Popstar der Welt wählen, Tracy Chapman hätte gute Chancen. Es ist nicht so, dass die Sängerin ungern über ihre Arbeit spricht. Aber sich selbst ins Licht zu stellen – das mag sie gar nicht. Tracy Chapman sitzt an einem kühlen aber klaren Samstagmorgen in Los Angeles am Telefon und ist guter Dinge. Von Zeitdruck keine Spur. „Dafür ist sie viel zu höflich“, sagt der Manager, der alles im Griff haben möchte und deshalb ankündigt, das Gespräch zu unterbrechen, wenn es zu lange dauert. Sein Zwischenruf bleibt jedoch aus. Vermutlich findet er es selbst interessant, was Tracy Chapman zu ihrem Land, seinen Politikern und der Kunst des Liederschreibens zu sagen hat.


Frau Chapman, man hat lange nichts mehr von Ihnen gehört. Was haben Sie zuletzt gemacht?
Tracy Chapman: Naja, es gibt tausend Dinge, die man tun kann, ohne dass die Öffentlichkeit davon etwas mitbekommt. Es ist ein Irrglaube, dass Musiker nur dann aktiv sind, wenn sie im Fernsehen zu sehen sind oder ein neues Album vorstellen. Ich bin aktiv. Ich schreibe neue Lieder, engagiere mich. Langweilig ist mir eigentlich nie.

Im Frühling hatten Sie einen eindrucksvollen Auftritt im Fernsehen, als Sie in einer der letzten Shows von David Letterman den Klassiker „Stand By Me“ gespielt haben.
Ja, das war eine schöne Sache. Das Team war sehr freundlich, die Leute im Studio haben mir die Nervosität genommen. Ein guter Auftritt. Außerdem habe ich natürlich einen besonderen Song gespielt. Letterman hatte vorher gesagt, dass er als Junge vor allem zwei Songs geliebt habe, „America“ von Simon & Garfunkel und eben „Stand By Me“ von Ben E. King.

Sie sind Expertin für gute Lieder. Was macht „Stand By Me“ zu einem so außergewöhnlichen und zeitlosen Song?
Ich habe das Stück schon bei verschiedenen Gelegenheiten gespielt, und es ist immer wieder so, als lasse man mit diesem Lied einen guten Freund in den Raum. Jemanden, der einem auf sehr einfache Weise eine sehr schöne Botschaft übermittelt. Die Leute mögen das. Sie genießen es, wenn dieser Song gespielt wird. Sie fühlen sich dann wohl.

Der Song wird millionenfach an Lagerfeuern gespielt. Manchmal ganz übel, häufig ordentlich – aber selten so brillant, wie Sie es taten. Wie macht man das, einen Song so zu singen, dass den Leuten der Atem stockt?
(lacht) Keine Ahnung. War es denn so?

Wenn man sich den Auftritt auf Youtube anschaut, spürt man, wie ergriffen das Publikum im Studio ist.
Woran merken Sie diese Ergriffenheit?

Zum Beispiel daran, dass der Applaus erst etwas später einsetzt als üblich – dann aber umso intensiver ist.
Ah. Na ja, die Leute bei Letterman wissen, was sie tun müssen, damit man sich als Musiker wohlfühlt. Sie unterstützen die Künstler, indem sie Komfortzonen aufbauen – was beim Fernsehen nicht einfach ist. Zudem hatte ich den Eindruck, dass die Zuschauer bei ihm nicht nur im Studio sitzen, weil sie es klasse finden, mal im Fernsehen zu sein. Die Leute dort interessierten sich wirklich für die Themen, die Gäste und die Musik. Diese Umstände machen es einem einfach, zu vergessen, dass man eigentlich nervös sein müsste.

1988 sind Sie beim Tribute-Konzert für Nelson Mandela alleine mit einer akustischen Gitarre auf die Bühne des Londoner Wembley-Stadions gegangen und haben für mehr als 70.000 Menschen in der Arena sowie geschätzt 600 Millionen weltweit vor den Fernsehern zwei Songs gespielt, „Fast Car“ und „Talkin’ Bout A Revolution“. Damals waren Sie eine Newcomerin, 24 Jahre alt. Wie nervös waren Sie da?
(lacht) Das Kribbeln war ungleich heftiger als zuletzt bei Letterman. Der Gedanke, vor diesen vielen Menschen in der Arena zu spielen, war durchaus furchteinflößend. Ich hatte meine Songs bis dahin meistens in Cafés gespielt, nicht in Fußballstadien. Aber so schlimm war es dann nicht. Viele Leute dachten damals wohl: Warum macht sie das alleine, warum hat sie keine Band dabei, die ihr helfen kann? Aber ganz ehrlich: Das hätte mich nervös gemacht. Ich kannte bis dahin kaum etwas anderes, als Konzerte alleine mit meiner akustischen Gitarre zu bestreiten. Das war mein gewohntes Arbeitsumfeld. Das Instrument und meine Songs gaben mir viel Sicherheit. Ich habe damals gelernt, dass es möglich ist, vertraute Dinge auch in Situationen tun zu können, die neu und herausfordernd sind. Von dieser Erfahrung profitiere ich bis heute.

Ich kenne eine Menge Leute, die von Ihrem Auftritt damals nicht nur bewegt waren, sondern wirklich den Impuls gefühlt haben: Ich möchte etwas tun. Glauben Sie, dass Ihre Musik eine positive Wirkung auf Menschen hat?
Interessanterweise können wir Musiker und Songwriter selbst am wenigsten zu der Frage nach der Wirkung unserer Musik sagen. Um es also kurz zu machen: Ich weiß es nicht. Aber es ist mir natürlich nicht egal. Es freut mich sehr, wenn Sie von Leuten wissen, die sich von meinen Songs inspiriert gefühlt haben.

Eine entscheidende Stelle in Ihrem berühmtesten Song „Talkin’ Bout A Revolution“ ist die Zeile „It sounds like a whisper“, also: Es klingt wie ein Flüstern. Vertrauen Sie den lauten Revolutionären nicht?
Es gibt die Typen mit den großen Gesten. Natürlich ziehen diese Leute schnell die große Aufmerksamkeit auf sich. Es kann auch tatsächlich helfen, laut zu werden und um sich herum eine wortgewaltige Menge zu versammeln. Ich habe aber damals beobachtet, dass diese Lautstärke keine Garantie dafür gibt, dass die Ideen selbst einen großen Widerhall erzeugen. Wirkung kann auch dann entstehen, wenn eine einzelne Person zur richtigen Zeit das richtige Wort sagt. Und das kann eben auch ganz leise passieren. Sogar geflüstert.

„Wer weiß, ob Martin Luther King heute überhaupt noch die Chance hätte, zu einem Protestführer aufzusteigen?“

Sie haben 2009 nach der Wahl von Obama gesagt, Ihr Land befinde sich auf einem richtigen und guten Weg. Wie fällt Ihr Fazit heute aus, knapp ein Jahr vor Ende seiner zweiten und letzten Amtszeit?
Zu einer Sache, die ich damals gesagt habe, stehe ich auch weiterhin: Seine Wahl bedeutete für Amerika einen großen Wandel. Ich bin stolz auf mein Land, das mit Barack Obama zwei Mal einen Afroamerikaner ins Amt gewählt hat. Es war eine bedeutsame Wahl und auch eine gute Wahl. Leider lassen sich heute aber viele politische Felder definieren, in denen sich die politische Situation der USA nicht verbessert hat. Es ist in meinen Augen aber unfair, dafür nur Obama die Schuld zu geben. Verantwortlich ist das politische System. Es gibt auf der einen Seite den Präsidenten, auf der anderen Seite den Senat und den Kongress, beide in der Hand der Republikaner, die nichts unversucht lassen, den ersten schwarzen Präsidenten der USA in einem schlechten Licht dastehen zu lassen. Es ist schon sehr enttäuschend, dass vom Volk gewählte Politiker nur noch ein Ziel zu verfolgen scheinen, nämlich Obama vor die Wand fahren zu lassen. Dabei nehmen sie sogar in Kauf, Dinge zu tun, die eindeutig nicht im Sinne des amerikanischen Volkes sind. Zum Beispiel beim Thema Gesundheitsversorgung. Das ist nicht das politische Verhalten und nicht das Amerika, das ich mir 2009 vorgestellt habe.

Was ist gefragt: mehr Geduld, weil der Fortschritt langsamer vorangeht als gedacht? Oder andere Methoden, um ihn wieder in Gang zu bringen?
Ich befürchte, mit Geduld ist es nicht getan. Wir dürfen nicht akzeptieren, dass es immer langsamer vorangeht oder dass sogar Rückschritte gemacht werden. Wir sollten uns wieder daran erinnern, welche Methoden es gibt, um Veränderungen voranzutreiben. Dazu zählte zur großen Zeit der Bürgerrechtsbewegungen zum Beispiel der zivile Ungehorsam, wie ihn in den USA Rosa Parks vorgelebt hat. Sehen Sie, die Leute sprechen heute immerzu von der neuen Macht der sozialen Medien. Und es stimmt: Es dauert nur wenige Minuten, und Bilder und Symbole gehen um die ganze Welt. Doch ich beobachte, dass das Netz diese Bilder häufig sehr schnell wieder ausblendet. So schnell wie sie kommen, gehen sie auch wieder.

Wie müssten sich die sozialen Medien ändern?
Ich glaube, die Struktur dieser digitalen Netzwerke ist das Problem. Die Idee ist ja, dass es kein Zentrum gibt, dass keiner die Meinungsführerschaft übernimmt. Ich denke aber, dass so jemand nötig ist, damit tatsächlich eine soziale und politische Bewegung entsteht – und nicht nur ein Raum mit vielen Stimmungen. Soziale Bewegungen benötigen Identifikationsfiguren, so wie Martin Luther King eine war.

Warum ist so jemand nicht in Sicht?
Es ist kompliziert geworden. Wer weiß, ob Martin Luther King heute überhaupt noch die Chance hätte, zu einem Protestführer aufzusteigen? Vielleicht hätte es schon früh eine Diskussion im Netz gegeben, weil irgendjemand eine bestimmte Aussage von ihm veröffentlicht hätte, auf die dann ein Shitstorm gefolgt wäre. Die sozialen Medien sind sehr streng darin, Fehler unvermittelt aufzudecken. Das kann gute Folgen haben. Zum Beispiel, weil man Blender widerlegen kann. Es hat aber auch zur Folge, dass man im Umkehrschluss von Menschen, die etwas Besonderes vorhaben, Perfektion verlangt. Die wird es aber nicht geben. Wir alle machen Fehler. Trotzdem Perfektion einzufordern, kann gefährlich sein.

„Hillary Clinton ist bereit für die Präsidentschaft, und sie ist in meinen Augen auch eine gute Wahl.“

Wann konkret?
Amerika hat gute Chancen, dass auf den ersten schwarzen Präsidenten nun mit Hillary Clinton die erste Frau in diesem Amt folgt. Das gefällt einigen nicht. Und die Affäre um offizielle E-Mails, die sie von ihrem privaten Konto aus geschrieben hat, ist doch im Grunde eher banal.

Sie glauben, das männlich dominierte politische Establishment will verhindern, dass Clinton Präsidentin wird?
Die Republikaner wollen es natürlich auf jeden Fall. Aber ich glaube, Hillary Clinton hat gezeigt, dass sie die richtigen Antworten parat hat. Sie ist bereit für die Präsidentschaft, und sie ist in meinen Augen auch eine gute Wahl.

Die erste Frau im Weißen Haus – wäre das ein so bedeutsamer Schritt wie der erste schwarze Präsident?
Ja. Unabhängig davon, wie sie ihre Präsidentschaft gestalten wird: Es wird ein wichtiges Zeichen für die Frauen in diesem Land sein. Aber wenn ich mir das neue Regierungsteam in Kanada anschaue, ist mit Blick auf die Vielfalt noch einiges möglich.

Dort hat der neue Premierminister Justin Trudeau die wohl bunteste Ministertruppe der Welt zusammengestellt, darunter ein Sikh, ein Inuk und eine Indigene. Wäre das in den USA auch möglich?
Die Vielfalt in den USA ist genauso augenfällig, daher wäre es natürlich wunderbar, wenn sie sich auch in der Regierung widerspiegeln würde. Aber man darf nicht naiv sein. Es gibt in den USA neokonservative Organisationen wie „Citizens United“, die alles dafür tun, dass die Vielfalt in den Machtzentralen abgewürgt wird. Mehr noch, diese Gruppe zeigt ganz offen, dass sie willens ist, den nächsten Präsidenten mithilfe von sehr viel Geld ins Weiße Haus zu befördern. Natürlich soll das ein weißer konservativer Mann sein. Die Organisation zog 2010 bis zum Obersten Gerichtshof, wo die Richter sicherstellten, dass Unternehmen weiterhin Kandidaten finanzieren dürfen – und zwar ohne Beschränkungen. Wenn Sie sich nun anschauen, welche Kandidaten sich auf Seiten der Republikaner für die Präsidentschaft bewerben, sehen Sie, welchen Effekt dieses Urteil auf die politische Kultur hat. Es geht eigentlich nur noch darum, ob jemand Geld hat oder nicht.

Und plötzlich haben Gestalten wie der Milliardär Donald Trump oder der Multimillionär Ben Carson augenscheinlich gute Chancen.
Abgesehen von den wirren politischen Vorstellungen dieser Männer: Es ist einfach nicht fair, dass sich diese reichen Leute mithilfe der so genannten Super-PACs noch reicher machen und sich somit aussichtsreich in ein Rennen begeben, in dem es offensichtlich auf andere Dinge ankommen sollte.

Bei so vielen Missständen: Wissen Sie als politische Aktivistin überhaupt noch, wo Sie anfangen sollen, um die Dinge zu ändern?
Ich will nicht überall mitmischen. Es gibt zwar viele Anfragen, aber ich fokussiere mich auf einige lokale Organisationen in San Francisco, wo ich lebe, sowie auf meine Arbeit für Amnesty International. Aber eines ist wichtig: Ich bin als Sängerin und Songwriterin noch nicht im Ruhestand. Ich schreibe ständig neue Lieder.

Nach so vielen Jahren im Geschäft: Lernen Sie noch neue Dinge über die Kunst des Songwritings dazu?
Oh ja, man lernt nie aus. (lacht) Ich war vor einem Jahr Teil der Jury auf dem Sundance Film Festival, und im Zuge meiner Arbeit dort habe ich mir einige Gedanken darüber gemacht, ob und wie die Kunstformen Film und Musik vergleichbar sind. Ich habe mit vielen Filmemachern gesprochen und gelernt, dass bei der Produktion eines Films sehr viele ökonomische Faktoren im Spiel sind: Es geht um Geld und Ressourcen, schließlich auch darum, sich bei einer komplexen Geschichte auf zwei Stunden zu limitieren. Auch beim Songwriting gibt es Beschränkungen. Wenn ich mich mit meiner akustischen Gitarre hinsetze und schreibe, entstehen zwar keine Kosten. Dafür habe ich aber noch weniger Zeit sowie eine festgelegte Struktur aus Strophen und Refrains. Das ist die große Herausforderung: innerhalb dieser Grenzen kreativ zu sein. Man muss die Ökonomie im Blick haben – und dennoch Kunst entstehen lassen.

Wenn Sie heute Songs wie „Fast Car“ oder „Talkin’ Bout A Revolution“ aufführen, singt und spielt dann die Ökonomin in Ihnen, die ihrem Publikum einen Gefallen tut, oder die Künstlerin Tracy Chapman?
Oh, ganz eindeutig die Künstlerin. Ich mag das Wort aufführen nicht, das würde ja bedeuten, ich schlüpfte in eine Rolle und inszenierte diese Songs. Das will ich nicht. Ich bin keine Schauspielerin, keine Darstellerin. Daher bin ich meinem jungen Selbst dankbar, dass es damals schon Lieder geschrieben hat, die sich heute noch frisch anfühlen und deren Bedeutung mir weiterhin sehr wichtig ist. (überlegt) Man sollte sich generell von der Vorstellung trennen, dass Musiker ihre bekanntesten Lieder ab einem bestimmten Zeitpunkt nur noch seelenlos abspulen. Es mag solche Leute geben, aber sie werden sehr schnell merken, dass ihnen das Publikum abhanden kommt. Menschen, die ein Konzert besuchen, sind auf der Suche nach einem einzigartigen Moment. Sie wünschen sich eine sehr spezielle Verbundenheit zwischen Künstler und Publikum. Es ist meine Aufgabe, diesen Moment herzustellen. Und das gelingt natürlich nur, wenn ich jeden Song, den ich singe, in den Kontext dieses besonderen Abends stelle. Es muss sich jedes Mal wieder neu anfühlen, als sei das Lied nur für diesen einen Anlass geschrieben worden.

So wie „Stand By Me“ bei Letterman.
Genau. Natürlich wussten wir alle, dass das Lied schon millionenfach gespielt und interpretiert wurde. Aber weil er es sich wünschte, ich die Einladung annahm und das Publikum zuhörte, wurde daraus ein sehr persönlicher, einzigartiger Moment. Vielleicht ist Musik die einzige Kunstform, der das so einfach und doch intensiv gelingt.


Zur Person
Tracy Chapman, geboren am 30. März 1964 in Cleveland, Ohio, erhielt im Alter von drei Jahren ihre erste Ukulele von ihrer Mutter. Mit acht brachte sie sich das Gitarrespielen selbst bei, damals entstanden bereits erste Songs. Während ihres Studiums der Anthropologie und Afrikanistik spielte sie erste Gigs und verdiente sich als Straßenmusikerin ein paar Dollar. 1986 wurde sie von einem Musikmanager entdeckt, der ihr einen Plattenvertrag bei Elektra vermittelte. Ihr Debüt wurde ein großer Erfolg, ihr Auftritt beim Tribute-Konzert zum 70. Geburtstag von Nelson Mandela machte Tracy Chapman zu einem Star. Bislang hat sie acht Alben veröffentlich, ein neuntes ist in Arbeit. Tracy Chapman lebt in San Francisco.

Share this article
Shareable URL
Prev Post

Tracy Chapman released her “Greatest Hits” album on November 20, 2015

Next Post

Tracy Chapman Im Bild-Interview: Zwanzig Minuten mit einem schüchternen Musik-Genie (Nov 11, 2015)

Read next