“Die Songs von damals – beängstigend aktuell”, Focus (January 16, 2016)

Samstag, 16.01.2016, von FOCUS-Online-Korrespondent Andreas Renner

Sag mir, wo die Lieder sind? Protest-Legende Tracy Chapman erklärt, warum sie sich heute vor allem auf ihre alten Hits verlässt – die sind nämlich noch genauso relevant wie in den 80ern

Frau Chapman, „Talkin’ Bout A Revolution“, „Fast Car“ oder „Across The Lines“ waren Songs, die während der Reagan-Präsidentschaft Missstände anprangerten. Haben Sie heute das Gefühl, damit etwas erreicht zu haben?

Mein Debütalbum verkaufte sich mehr als 20 Millionen Mal. Ich habe oft von Fans gehört, dass meine Lieder sie inspiriert haben. Ob die Songs tatsächlich auch einen gesellschaftspolitischen Einfluss hatten, halte ich eher für unwahrscheinlich. Ich bin schon etwas enttäuscht, dass wir nicht in einer besseren Welt leben.

Sie wollten immer politisch sein?

Ich war schon immer politisch interessiert, habe auch bei einer Anti-Apartheid-Demo an der Uni gesungen. Aber ich wollte mich nie als politisch orientierte Sängerin etablieren. Ich bin da eher so reingerutscht.

Aus Enttäuschung über das System?

Eher aus der eigenen Erfahrung heraus. Ich bin keine Songschreiberin, die einen schwätzenden Politiker im Fernseher sieht und dann vor Entrüstung einen Protestsong schreibt. Ich bin beim Songschreiben eher gedanklich in meiner eigenen Welt unterwegs und versuche, mich nicht von Wut, Hass oder sonstigen negativen Dingen beeinflussen zu lassen. Vielmehr von dem, was ich erlebt habe in meiner Kindheit und Jugend.

Sie kommen aus einer Arbeiterfamilie.

Ja, meine Mutter lebte zwischenzeitlich von Sozialhilfe. Geld war immer knapp, wir konnten uns nichts leisten, und ich war bei meiner Schulbildung auf Stipendien angewiesen. Das Viertel war ziemlich gefährlich, der einzige Ort, wohin ich allein gehen durfte, war die örtliche Bücherei. Sie war eine Art Babysitter für mich, so viel Zeit habe ich dort verbracht.

Auf Ihrem neuen „Greatest Hits“-Album ist kein neuer Song. Warum?

Es gibt eine Live-Aufnahme aus der David-Letterman-Show vom April 2015: meine Version von Ben E. Kings „Stand By Me“. Aber ansonsten ist das Album einfach eine Sammlung der beliebtesten Songs meiner Karriere.

Juckt es Sie nicht in den Fingern, wenn Sie an Donald Trump denken oder den IS oder den Umstand, dass 30 000 Amerikaner jährlich durch Waffengewalt sterben?

Ich schreibe regelmäßig Songs und bin auch politisch sehr interessiert. Aber ich möchte momentan nicht Musik für die Massen machen. Ich habe mir nach meiner letzten Tour vor sieben Jahren eine Auszeit verschrieben. Die ist nun etwas länger geraten . . .
In den USA, einem der reichsten Länder der Welt, leben jedes dritte Kind in Armut und ein Drittel der Bevölkerung von der Wohlfahrt. Zustände, über die Sie bereits 1988 gesungen haben. Es ist schon ein bisschen beängstigend, wie aktuell meine Texte von damals teilweise noch sind.

Und Songs wie „Bang Bang Bang“ könnten nun als Hymne für die neue Bürgerrechtsbewegung „Black Lives Matter“ stehen.

Als ich für die Zusammenstellung der Songs meinen gesamten Katalog noch mal durchgehört habe, war das nicht nur eine emotionale Zeitreise. Ich habe tatsächlich oft gedacht: Mensch, „Talkin’ Bout A Revolution“ hast du geschrieben, als du 19 warst. Was wusste ich damals schon vom Leben? Ich hatte die Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Und nun?

Wir hätten jedenfalls das Potenzial, die Welt zu einem besseren und friedlicheren Ort zu machen. Aber in letzter Zeit marschieren wir wieder in die völlig falsche Richtung. Wir müssen wieder mehr nach dem Prinzip „Power to the People“ leben, anstatt uns alles diktieren zu lassen. Der Einfluss des Geldes ist zu groß geworden.

Warum gibt es auch sonst im Vergleich zu den 80ern immer weniger Künstler, die gegen diese Missstände ansingen?

Das Musikgeschäft hat sich sehr verändert. Es ist mehr denn je von Kommerz beeinflusst und weniger bereit, Risiken einzugehen. Künstler gehen demnach ebenfalls weniger Risiken ein. Neulich habe ich davon gelesen, dass große Firmen mittlerweile Musiker dafür bezahlen, dass sie ihr Produkt in einem Song erwähnen. Wenn man jetzt so sein Geld verdienen kann als Musiker, warum sollte man dann sozialkritische Songs schreiben, die einem ohnehin keiner mehr abkauft?

Sie wurden über Nacht weltbekannt, als Sie beim Mandela-Konzert 1988 im Londoner Wembley-Stadion zur besten Sendezeit auftraten . . .

. . . weil Stevie Wonder plötzlich etwas von seiner Anlage fehlte, irgendein Teil seines Pianos, ohne das er nicht auftreten konnte. Also hat man mich kurzerhand eingeschoben. Ich saß den ganzen Tag auf Abruf in einem Raum hinter der Bühne und war ja eigentlich nicht eingeplant. Ich wurde als Ersatzkraft engagiert, falls etwas schiefging. Und dann kam tatsächlich die Chance. Danach war nichts mehr wie vorher.

Im April 1988 erschien Ihr Debütalbum, im Juni standen Sie auf der Bühne in Wembley, im September gingen Sie spontan mit Bruce Springsteen, Sting und Peter Gabriel auf Tournee, und im Februar erhielten Sie Ihren ersten Grammy. Alles innerhalb eines Jahres . . .

Wow, wenn ich es jetzt so höre, kommt die Erinnerung zurück. Ich hatte wirklich verdrängt, wie schnell das alles ging. Ich habe das gar nicht richtig realisiert, weil ich plötzlich in einer Art Blase lebte: Tour-Busse, Flugzeuge, Hotels. Ich fotografiere sehr gerne, wenn ich auf Tour bin. Irgendwann habe ich gemerkt, dass die meisten Fotos durch eine Glasscheibe geknipst waren. Ich war abgeschottet vom Rest der Welt. Aber ich habe nie in meinen kühnsten Träumen daran geglaubt, dass ich jemals eine solche Karriere machen würde.

Sie wollten eigentlich Tierärztin werden.

Das war mein Kindheitstraum. Dann habe ich Anthropologie studiert, das wäre eine Alternative gewesen. Aber letztlich war es nicht überraschend, dass ich bei der Musik gelandet bin. Zu Hause war ich ständig davon umgeben. Mein Vater hat Jazz gehört, meine Mutter R & B, Soul und Gospel und die ältere Schwester Rock und Pop. Ich habe mit acht schon erste Songs geschrieben und mir selbst Gitarrespielen beigebracht. Es war gut so, wie es gekommen ist.

„Ich wurde als Ersatzkraft engagiert, falls etwas schiefging. Und dann kam tatsächlich die Chance. Danach war nichts mehr wie vorher“ Tracy Chapman über ihren Auftritt beim Mandela-Konzert in London 1988

Share this article
Shareable URL
Prev Post

Q&A: Tracy Chapman – The Fans’ Interview

Next Post

Tracy Chapman among the celebrity panel of judges of The Steve Silver Foundation & Beach Blanket Babylon “Scholarship for the Arts”

Read next