2000 – Ich habe sinn für humor

Von Tom May, Amazon.de, 2000

Über die Missverständnisse, zu denen der enorme Erfolg Ihres Debüts geführt hat, gibt die Künstlerin in unserem Interview Auskunft, das Tom May anlässlich der Veröffentlichung ihres letzten regulären Studioalbums Telling Stories aus dem Jahr 2000 geführt hat.

Amazon.de: Auf Ihrem neuen Album gibt es ein ganzes Netz von Bildern, die immer wieder auftauchen — Lügen, Illusionen, Halbwahrheiten und spirituelle Bilder.

Tracy Chapman: Ich habe erst vor kurzem damit begonnen, die Lieder als ein Ganzes zu sehen. Während man sie schreibt — und sogar noch im Studio — konzentriert man sich auf das einzelne Lied. Es ist dieser Mikrokosmos, in dem man sich mit Noten und Takten befasst, und versucht, sich in Klängen auszudrücken. Nun habe ich ein wenig Abstand genommen und fange an, das Ganze als ein größeres, zusammenhängendes Bild zu sehen. Es scheinen schon einige starke, verbindende Themen da zu sein. Darüber war ich mir nicht bewusst, als ich die Lieder schrieb. Viele der Lieder handeln vom Glauben, und auch von der Feststellung, was real ist, beziehungsweise davon, das Reale in Frage zu stellen. Oder davon, wie Leute mit der Realität einer Situation umgehen. Wie in “The Only One”, in dem jemand versucht, den Tod zu akzeptieren, und sich in dessen Verlauf mit der Frage des Glaubens auseinandersetzt.

Amazon.de: Was hat dazu geführt, dass Sie sich wieder mit David Kershenbaum zusammentun wollten, der auch Ihre ersten zwei Alben produzierte?

“Ich wollte eine Platte mit HiFi-Qualität machen.”

Chapman: David hatte damit begonnen, sich mit neuen Aufnahmetechnologien zu befassen, und mit neuen Wegen, bei der Aufnahme von Platten, Digital- und Analogtechnologie mit der Hilfe von Computern zu kombinieren. Daran war ich auch sehr interessiert. Ich mochte einfach die Ideen, die er hatte, und war daran interessiert, einige dieser neuen Ideen bei meiner neuen Platte auszuprobieren — ich wollte eine Platte machen, die klanglich auf dem neuesten technischen Stand war und absolute Highfidelity-Qualität hatte. Wir konzentrierten uns wirklich darauf, den besten Weg herauszufinden, alles aufzunehmen. Wir arbeiteten mit Analogband und Digitalformat, versuchten es mit jeder Menge elektronischem Gerät, mit Kompressoren und Vorverstärkern — und am Ende versuchten wir sicherzustellen, dass wir stets das beste Equipment und das beste Aufnahmeverfahren wählten. Wir kombinierten einen Haufen Dinge, und am Ende war die Platte klangtechnisch gesehen eine Art Mischform. Sie repräsentiert das Beste von allen verfügbaren Technologien: das Beste von dem, was die Digitaltechnologie zu bieten hat, und das Beste von dem, was die Computertechnologie hergibt.

Amazon.de: Wenn Sie Songs schreiben, betrachten Sie das Schreiben der Melodie und das Schreiben des Textes als im Grunde gleichwertige Vorgänge?

Chapman: Ganz bestimmt. Sie gehören immer zusammen. Jeder schreibt anders, aber ich glaube nicht, dass ich jemals einen Text geschrieben habe, der nicht eine Melodie hatte, die ihn begleitete — oder umgekehrt. Manchmal spielt man einen Akkordverlauf, aber das allein macht noch kein Lied.

Amazon.de: Welchen Mix aus den persönlichen und gesellschaftlichen Themen, die Ihre Fans von Ihren Songs her kennen, haben Sie diesmal gewählt? Hat es irgendeine Verlagerung gegeben?

Chapman: In mancher Hinsicht sehe ich diese Platte eigentlich als viel allgemeiner, insofern als dass es einen viel größeren Themenbereich gibt, der sich mit dem befasst, was im Leben der meisten Menschen wichtig ist: der Stellenwert der Liebe und der Wahrheit, wie man mit dem Tod und mit der Frage des Glaubens umgeht.

“Ich habe nicht vor, eine Comedy-Platte aufzunehmen.”

Amazon.de: Hatten Sie als Kind ein starkes religiöses Umfeld?

Chapman: Als Teenager besuchte ich eine Episkopalschule. Und als ich jünger war, schickte meine Mutter mich und meine Schwester in den Kindergottesdienst. Aber sonst — nein, wir wurden nicht direkt zu einer bestimmten Religion hin erzogen.

Amazon.de: Welche Missverständnisse würden Sie sagen sind um Ihr öffentliches Image herum entstanden, besonders nach dem unglaublichen Erfolg Ihres Debütalbums?

Chapman: Ich weiß nur das, was mir Leute erzählen, und ich bin schon einigen Leuten begegnet, die überrascht waren, dass ich einen Sinn für Humor habe. Ich denke, es gibt keinen Weg, so etwas durch eine Schallplatte zu vermitteln — zwangsläufig. Es sei denn, es wäre eine Comedy-Platte. Und ich habe gegenwärtig nicht vor, eine Comedy-Platte zu machen. Ich glaube, wenn mich jemand live sieht, dann würde er erkennen, dass ich einen Sinn für Humor habe. Ich will mich jetzt nicht selbst zitieren — aber ein Lied wie “Telling Stories” kann man nicht nur als ein Lied über die Beziehung zweier Menschen interpretieren, und die Verwirrungen, die manchmal aus Mangel an einer gemeinsamen Wahrheit entstehen. Es kann auch davon handeln, wie leicht ein Leben, beziehungsweise die Realität des Lebens eines Menschen, in den Medien verzerrt werden kann. Dabei kann man fast immer davon ausgehen, dass es sich bei dem, was überhaupt daran wahr ist, wahrscheinlich nur um eine Halbwahrheit handelt. Ich denke, dass das wahrscheinlich auch auf mich zutrifft. Es ist schwer, jemand wirklich zu kennen, von dem man nur die Musik kennt.

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